Fish event horizon – warum der Karpfen nach Franken kam

Archäologische Forschungen tragen nicht nur zum Verständnis der menschlichen Vorgeschichte, der Kulturen und des menschlichen Verhaltens bei, sondern liefern auch wichtige Daten für andere Forschungsbereiche und für unsere heutige Gesellschaft. Ein Beispiel dafür ist der sogenannte fish event horizon. Dieser Fisch-Ereignishorizont zeigt einerseits der Archäologie, welche Folgen Klimaschwankungen und menschliche Eingriffe in die Natur auf die Ernährung und Wirtschaft des Mittelalters haben. Er ist andererseits aber auch für bioökologische Studien über das Leben im Meer von großer Bedeutung. Zugleich spielt er auch für uns heute eine wichtige Rolle, da er Aufschluss darüber gibt, wie menschliche Aktivitäten die von uns genutzten Lebensräume beeinflussen und verändern.
Der Begriff event horizon, also der Ereignishorizont, wird in der Astrophysik am häufigsten verwendet, wenn es um schwarze Löcher geht. Einfach ausgedrückt: er ist die Grenze, hinter der Ereignisse nicht mehr beobachtet werden können. Der Fisch-Ereignishorizont ist in diesem Fall die Grenze, bzw. der Zeitpunkt, ab der naturwissenschaftliche/paläoökologische Forschungen in marinen Ökosystemen nicht mehr durchgeführt werden können, weil die Auswirkungen menschlichen Einflusses zu stark sind.
Zwei Männer beim Fischen mit dem Netz (Abbildung aus dem Stuttgarter Psalter, 1. Hälfte 9. Jahrhundert (Quelle: Württembergische Landesbibliothek Stuttgart online, 156r)

Dramatische Veränderungen um 1000 n.Chr.
Ursprünglich ging man davon aus, dass sich die Hochseefischerei erst im Spätmittelalter in Europa ausbreitete. Mit den Fortschritten der archäozoologischen Studien und dem Einsatz moderner archäologischer Methoden konnte diese Annahme jedoch widerlegt werden. Die intensive Meeresfischerei im Spätmittelalter muss eher als Fortsetzung einer Praxis angesehen werden, die bereits um die Jahrtausendwende begonnen hatte. Bei der Untersuchung von Hunderten von archäologischen Funden aus ganz Europa konnte festgestellt werden, dass sich die Fischereipraktiken um das Jahr 1000 n. Chr. dramatisch verändert haben. Die Funde deuten stark darauf hin, dass die Menschen auf dem gesamten Kontinent innerhalb einer kurzen Zeitspanne von der Kleinfischerei in Seen und Flüssen zu einer ausgedehnten Meeresfischerei übergingen. Dies zeigt sich in einem massiven Anstieg der Funde von Meeresfischen (insbesondere Kabeljau und Hering), während gleichzeitig die Funde von Süßwasserfischen dramatisch zurückgehen. Auffällig ist auch, dass Gräten von Meeresfischen immer häufiger an Stellen auftauchen, die weit vom Meer entfernt liegen, was auf kommerziellen Fischfang und Handel schließen lässt.

In der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts setzte auf der Nordhalbkugel das sogenannte Klimaoptimum ein, eine bis in das Spätmittelalter andauernde Wärmeperiode, durch die sich Fischbestände aus der Ostsee in die kältere Nordsee verlagerten. Gleichzeitig sind auf dem Kontinent durch massive Überfischung der Süßgewässer Ökosysteme teilweise oder vollständig ausgelöscht worden. Welche Fischarten in welchen Mengen vor der Jahrtausendwende in europäischen Gewässern vorhanden waren, lässt sich aufgrund dieses Kollapses nicht mehr detailliert erforschen. Genau dieser Umstand prägte 2004 den Begriff fish event horizon oder eben Fisch-Ereignishorizont.

Kulinarische Auswirkungen bis heute
Auf der einen Seite fehlte in Europa nun Süßwasserfisch, auf der anderen Seite war die Bevölkerung Skandinaviens nach der Wikingerzeit in Fischfang und Seefahrt sehr erfahren. So entwickelte sich schnell ein Handelssystem, welches große Mengen Nordseefisch über Zwischenhändler bis nach Süddeutschland, Frankreich und Portugal handelte. Wichtigste Zwischenhändler waren die Mitglieder der Hanse, die so zu Reichtum und Einfluss gelangten.
Gleichzeitig wurde aber auch versucht den Mangel an Süßwasserfisch mit Zuchtanlagen auszugleichen. Gerade Klöster richteten aus diesem Grund ab dem 11. Jahrhundert große Zuchtteiche ein, in denen zum Beispiel Karauschen (Verwandte des heutigen Karpfens) für die Fastenzeit gezüchtet wurden. Erst nach und nach siedelten sich in den Flüssen wieder Fischarten an, die mit der wärmeren Temperatur und den menschlichen Eingriffen umgehen konnten.
Die großen Teichanlagen im fränkischen Aischgrund oder im oberpfälzischen Stiftland, gehen also auf eine klimatologische Wärmeperiode und einen vom Menschen verursachten ökologischen Zusammenbruch vor 1000 Jahren zurück.


Literatur:
Barrett & Orton (ed) (2016) "Front Matter." Cod and Herring: The Archaeology and History of Medieval Sea Fishing, Oxbow Books, Oxford; Philadelphia
Barrett, Locker, & Roberts, (2004). The Origins of Intensive Marine Fishing in Medieval Europe: The English Evidence. Proceedings: Biological Sciences, 271(1556), 2417–2421.
Harland J. (2016) From The Fish Middens to the Herring: Medieval and Post-Medieval Fishing in the Northern Isles of Scotland. In Gabriel S, Reitz E, editors, Fishing through time: Archaeoichthyology, biodiversity, ecology and human impact on aquatic environments: Proceedings of the 18th ICAZ Fish Remains Working Group meeting, held in Lisbon (Portugal), 28th September 3rd October, 2015.
Muldner, G. (2016) Marine fish consumption in medieval Britain: the isotope perspective from human skeletal remains. In: Barrett, J. and Orton, D. (eds.) Cod and herring: the archaeology and history of medieval sea fishing. Oxbow Books, Oxford, pp. 239-249.
Orton, Morris, Locker & Barrett. (2014) Fish for the city: meta-analysis of archaeological cod remains and the growth of London's northern trade. Antiquity 88: 516–30.

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