Wenn man als Archäologe oder Anthropologe auf menschliche Überreste trifft, möchte man immer wissen, mit wem man es zu tun hat, wie die Menschen damals lebten und was mit ihnen passiert ist. Meistens gibt es auch keine Schriftquellen über die Personen, die wir ausgraben. Nicht einmal, wenn es sich um mittelalterliche Überreste handelt. In der Regel haben wir nur die Skelette, die unsere einzige Informationsquelle sind.

Die Anthropologie und Osteologie verfügt über eine Reihe an Methoden Informationen aus Knochenfunden zu ziehen und diese zu analysieren, um so viel wie möglich über eine Person herauszufinden. Eine dieser Methoden ist die Vermessung der Knochen. Die Osteometrie.

Sabina Wahlstedt
Was genau kann mit der Osteometrie herausgefunden werden?

Individuelle und bevölkerungsspezifische Unterschiede machen jeden Menschen einzigartig, obgleich natürlich auch Gemeinsamkeiten innerhalb von Bevölkerungsgruppen herrschen. Mit der Osteometrie können genau diese Unterschiede und Gemeinsamkeiten untersucht werden. Wir Anthropologen nutzen diese Methode, um zum Beispiel anhand der Knochen die Körpergröße einer Person zu rekonstruieren. Forschungen hierzu begannen bereits um das Jahr 1800. Seitdem wurden mathematische Formeln entwickelt, mit denen die Körpergröße einer Person anhand von Knochenmessungen berechnet werden kann.

Wie genau funktioniert das?

Die am häufigsten verwendeten Knochen zur Bestimmung der Körpergröße sind Röhrenknochen, da diese unwillkürlich mit unserer Körpergröße in Zusammenhang stehen. Normalerweise werden hierzu Oberschenkel- oder Unterschenkelknochen bevorzugt. Es gibt aber auch Formeln zur Berechnung anhand von Ober- und Unterarmen, die jedoch als weniger zuverlässig gelten. Es gibt unterschiedliche Methoden, wie genau die Knochen zu vermessen sind und die Körpergröße zu berechnen ist. Dabei müssen mehrere Faktoren berücksichtigt werden, um möglichst korrekte Ergebnisse zu erhalten.

Welche Dinge müsst Ihr bei Eurer Arbeit denn besonders im Auge behalten?

Zunächst ist es wichtig, die richtigen Messwerkzeuge zu benutzen. Außerdem muss auch die Herkunft der Person berücksichtigt werden, da es für verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedliche Berechnungen gibt. Einige Formeln sind geschlechtsspezifisch, aber es gibt auch geschlechtsneutrale. Letztere sind sehr nützlich, da es in der Archäologie nicht immer möglich ist, anhand des Fundmaterials das Geschlecht eindeutig zu bestimmen oder überhaupt zu bestimmen.

Wie läuft denn so eine Messung und Berechnung ab?

Die maximale Länge des Femur (Oberschenkelknochens) und des Tibia (Schienbeins) wird getrennt gemessen. In der Regel sollten die Messungen mit einer Genauigkeit von einem Millimeter erfolgen. Dann werden die Messergebnisse in die Formeln eingesetzt und die Körpergröße kann berechnet.

Ein Beispiel für die Messung von Knochen (Quelle: Grupe, Harbeck, McGlynn, 2015)

Ein Beispiel?

Nehmen wir eine Formel auf Grundlage von Funden aus Skandinavien (Maijanen und Niskanen, 2010):
2,86 x Länge des Femur + 37,89 = Körpergröße in cm

Ein weiteres Beispiel auf Grundlage von mexikanischen Funden, wobei zu beachten ist, dass die Formel einen Toleranzbereich von 3,417 cm beinhaltet (Genoves, 1967):
2,26 x Länge des Femur + 66,379 = Körpergröße ± 3,417

Bei einer angenommenen maximalen Länge des Femurs von 50 cm, würden die Ergebnisse so aussehen:
Beispiel nach Maijanen und Niskanen: 2,86 x 50,0 + 37,89 = 180,89 cm
Beispiel nach Genoves: 2,26 x 50,0 + 66,379 = 179,379 cm ± 3,417 cm

Die Ergebnisse sind zwar nicht identisch, aber sehr ähnlich. Es ist also immer von Vorteil so viele Messungen wie möglich durchzuführen, um ein genaueres Ergebnis zu erhalten.

Das klingt dennoch nach einer zuverlässigen und auch einfachen Berechnung.

In der Theorie klingt das relativ einfach. In der Praxis sieht das aber meistens ganz anders aus. Bei archäologischen Ausgrabungen besteht oft das Problem, dass menschliche Überreste oft zerbrochen oder auf irgendeine Art und Weise beschädigt sind. Das bedeutet, dass Skelette oft überhaupt nicht vermessen werden können oder die Messergebnisse zu verzerrt sind, um sie für die Größenbestimmung heranzuziehen. Ein weiteres Problem – nicht unüblich in der Anthropologie – sind die kleinen, aber feinen Unterschiede bei Individuen und auch bei Bevölkerungsgruppen.
Und selbst wenn wir einen guten und intakten Knochenfund haben, mit dem wir die Berechnungen anstellen können, dürfen wir dieses Ergebnis nicht als Tatsache sehen. Die Osteometrie ist oft besser als Vergleichsmaßstab geeignet. Menschen lassen sich nicht so einfach vermessen, berechnen und in Kategorien stecken, selbst wenn sie schon Jahrtausende tot sind.

Als Wissenschaftler hat man doch immer gerne verlässliche Daten. Ist das nicht entmutigend?

Naja, nur weil unsere Forschung kompliziert ist, heißt es nicht, dass wir aufhören sollten, sie zu betreiben. Die Osteometrie ist ein kleiner, aber nicht unwichtiger Baustein von vielen in unserer großen Suche nach Antworten über unsere Vorfahren und unsere Vergangenheit.

Zur Person: Sabina Wahlstedt / Anthropologin und Archäozoologin von IN TERRA VERITAS / Master of Arts in Osteoarchäologie

Quellen/Literatur:
Bass 2005 – Human Osteology
Buikstra & Ubelaker 1994 - Standards for data collection from human skeletal remains
Grupe, Harbeck, McGlynn 2015 - Prähistorische Anthropologie
Maijanen and Niskanen 2010 – New regression equations for statuere stimation for medieval Scandinavians
Roberts & Manchester 2012 – The Archaeology of Disease
White, Black & Folkens 2012 – Human Bone Manual, Third Edition.