Mystische Geschichten über versunkene Städte, vergessene Orte und sagenhafte Schätze unter der Erde werden noch heute erzählt. Nicht irgendwo im dichten Dschungel Südamerikas oder den weiten Steppen Asiens. Versunkene Orte sind Phänomene, die in ganz Europa und sogar in Bayern eigentlich alltäglich sind.
In der Archäologie werden sie als Wüstungen bezeichnet und sie sind nicht einmal so selten. In Europa gibt es zwischen 50.000 und 60.000 solcher ehemaligen Siedlungen. Es sind Orte, die von den Bewohnern aus unterschiedlichen Gründen für immer verlassen wurden. Ihre Ruinen blieben noch eine Weile stehen, bis sie irgendwann einstürzten, überwuchert und oft von der Erde völlig verschlungen wurden.

Ein Beispiel für Nordbayern ist der Barbaraberg bei Speinshart (Landkreis Neustadt a.d. Waldnaab, Oberpfalz), auf dem sich seit dem hohen Mittelalter auch eine Kirche befindet. Nach einer alten Sage soll hier einmal eine versunkene Siedlung gestanden haben. Und tatsächlich wurden bei archäologischen Ausgrabungen Teile von Siedlungsresten gefunden. Doch anders als in der Sage hat sich hier nicht die Erde aufgetan und eine belebte Siedlung verschlungen. Der Ort wurde einfach irgendwann aufgegeben. Ein anderes Beispiel eines solchen wüst gefallenen Ortes stellt Schmerb im Ebracher Forst dar. (Zum Artikel: Archäologen im Ebracher Forst unterwegs. „Hier schlummert ein spätmittelalterliches Archiv im Boden")

Ehemalige Hauptstraße des wüst gefallenen Dorfes Schmerb im Ebracher Forst, Blick Richtung Dorfplatz

Wie kommt es zu solchen Wüstungen?
Für das Mittelalter können zwei ganz markante Perioden festgestellt werden, in denen Wüstungen entstanden sind. Die Ursachen dafür waren jedoch sehr unterschiedlich.
Die erste größere Wüstungsperiode begann im 11. Jahrhundert und zog sich bis in das 13. Jahrhundert. Ein starkes Bevölkerungswachstum und die Verleihung von Stadtrechten ergaben starke Push- und Pull-Faktoren. Die Menschen zogen vermehrt in die Städte, um hier Arbeit, mitunter Bürgerrechte, besseren Schutz und Aufstiegschancen zu erhalten. So bildeten sich um besonders wichtige Städte sogenannte Wüstungskränze. Also Ringe aus ganz oder teilweise wüst gefallenen Orten rund um eine Metropole. Auffällig hierbei ist, dass tatsächlich nur die Ortschaften verlassen wurden. Die Äcker, Gärten und Weiden wurden weiterhin genutzt.
Eine zweite Wüstungsperiode lag im 14. und 15. Jahrhundert. Die Gründe waren hier jedoch ganz anders geartet. Hungersnöte, Naturkatastrophen wie die Magdalenenflut und die Pest lösten einen starken Bevölkerungsschwund aus. Bis zum späten 14. Jahrhundert nahm so die Bevölkerung in Zentraleuropa um 30-40% ab. Doch nur in Ausnahmefällen starben ganze Ortschaften aus, die dann nicht mehr besiedelt wurden. Viel mehr zeigte sich eine Bevölkerungswanderung. Orte, die wirtschaftlich schlechter gestellt waren, wurden zuerst aufgegeben. Die überlebende Bevölkerung siedelte in Orte um, deren wirtschaftliche Lage vielversprechender war (z.B. höherer landwirtschaftlicher Ertrag durch bessere Böden).

Ursachen sind vielfältig
Diese beiden Perioden mit ihren genannten Ursachen sind jedoch nicht allein in der Lage die dynamischen Prozesse von Wüstungsentstehungen zu erklären. Vielmehr handelte es sich immer um ein Zusammenspiel aus mehreren Faktoren, die schlussendlich den Ausschlag gaben, ob ein Dorf aufgegeben wurde oder nicht. Nur in den wenigsten Fällen gibt es einen einzigen und klar identifizierbaren Grund, warum ein Ort zerstört und nicht wieder aufgebaut wurde. Ein Beispiel dafür wäre das Magdalenenhochwasser im Jahr 1342.

Weitere Gründe für die Aufgabe eines Ortes gibt es viele. In fast jedem einzelnen Fall handelt es sich um eine Kombination unterschiedlicher Ursachen, die am Ende dafür sorgt, dass ein Ort aufgegeben wird.

  • Kriegerische Auseinandersetzungen können einen Ort zumindest für einen gewissen Zeitraum menschenleer und zerstört zurücklassen. Beispiele: Lindelach bei Gerolzhofen (Landkreis Schweinfurt, Unterfranken) blieb nach der Zerstörung im 30jährigen Krieg wüst. Dagegen wurde Teuschnitz (Landkreis Kronach, Oberfranken), das ähnlich schwer getroffen war, wieder aufgebaut.
  • Klimatische oder naturräumliche Veränderungen wie die kleine Eiszeit oder Rodungen mit einhergehender Bodenerosion können ein Ort über lange Zeit unbewohnbar machen.
  • Politische, religiöse oder wirtschaftliche Bedingungen können sich negativ ändern, sodass die Menschen ihre Heimat verlassen und woanders ihr Glück suchen.

Und nicht immer wurden die Siedlungen überstürzt von heute auf morgen verlassen. Manchmal war es auch ein derart langsam voranschreitender Prozess, dass den damaligen Bewohner, dem zuständigen Lehnsherrn oder den Chronisten gar nicht klar war, dass ein Ort gerade dabei war aufgegeben zu werden.

Sagenhafte Schätze
Der Fund sagenhafter Schätze materiellen Wertes – wie eingangs beschrieben – ist eher selten. Doch für die Archäologie sind Wüstungen tatsächlich ein ganz besonderer Schatz der Wissenschaft. Sie sind eine einmalige Möglichkeit einen ganzen Ort als Zeitkapsel zu untersuchen.
Eine ganze Siedlung mit Wegen, Brunnen, Latrinen, mit Parzellengrenzen und Ställen, Gärten und allen Bestandteilen, wie sie zum Zeitpunkt ihrer Aufgabe genutzt wurde, liegt konserviert im Boden.
So kann die Geschichte des Ortes, seine Gründung, sein Aufblühen und sein Niedergang in allen Details nachvollziehbar gemacht werden.

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