Einem Reitervolk die Stirn geboten

Die Ungarneinfälle waren eine Reihe von kriegerischen Konfrontationen zwischen den Magyaren – das waren die noch nicht sesshaften Ungarn – und ihren Nachbarvölker in Süd-, Mittel- und Westeuropa. In der ungarischen Literatur wird diese Phase als Landnahmezeit bezeichnet. Die ersten Auseinandersetzungen über die Karpaten begannen im Jahr 899 n.Chr.

Auf Grundlage umfangreicher Berichte aus Schriftquellen des 10. Jahrhunderts können die Kriegs- und Beutezüge der ungarischen Reitertruppen über insgesamt 56 Jahre in drei Hauptphasen gegliedert werden:

Erste Phase, 899-907: Die Magyaren griffen zunächst Oberitalien an, das sich im Jahr 900 durch enorm hohe Tributzahlungen vorübergehend freikaufen konnte. Weniger Glück hatte das benachbarte Großmährische Reich, das zwischen 902 und 906/7 zerstört wurde. Endpunkt der ersten Phase war die Schlacht bei Pressburg/Bratislava im Jahre 907. Dort hatte das bayerische Heer unter der Führung von Markgraf Luitpold von Bayern eine schwere Niederlage gegen die Magyaren erlitten.

Zweite Phase, 907-926: Nach der bayerischen Niederlage konzentrierten sich die weiteren Ungarneinfälle vor allem auf Bayern, Schwaben, Franken, Thüringen und Sachsen. Die Magyaren erreichten bei ihren Streifzügen die Grenzen Dänemarks, drangen bis nach Lothringen, Elsass, Burgund, Südfrankreich und wiederholt auch nach Italien vor. Im Jahr 926 erkaufte der ostfränkische König Heinrich I. einen neunjährigen Waffenstillstand gegen jährliche Tribute. Er nutzte dies, um einen Feldzug gegen die Magyaren zu führen.

Dritte Phase, 932-955: Nachdem Heinrich I. 932 seine Zahlungen frühzeitig abbrach, begannen die magyarischen Angriffe zunächst in Sachsen. Da sie hier jedoch zurückgeschlagen wurden, griffen sie Belgien, Nord- und Südfrankreich, einschließlich Burgund, und erneut Italien an. Erst in der Schlacht auf dem Lechfeld erlitten die ungarischen Truppen 955 eine vernichtende Niederlage gegen König Otto I. Damit endete die dritte und letzte Phase der Ungarneinfälle in dieser Zeit.

Befestigungsanlagen (Ungarnburgen)
Aus dem 8. bis 10. Jahrhundert sind für Nordbayern etwa 30 frühmittelalterliche Burgen schriftlich überliefert. Archäologische Befunde weisen sogar auf etwa 260 frühmittelalterliche Befestigungsanlagen hin. Unter den Arten solcher Anlagen sind vor allem die geschütteten Erdwälle zu erwähnen, die vom Prähistoriker R. Reinecke in der Literatur häufig als Ungarnrefugien bezeichnet werden. Verwiesen wird vor allem auf St. Gallen, wo laut dem Bericht von Ekkehart IV. (Casus Sancti Galli) im Jahre 926 ein Wall, nämlich die Waldburg bei Häggenschwil, infolge der Ungarngefahr aufgeschüttet wurde.
Charakteristisch für diese aus Erde und Steinen bestehenden Anlagen sind die teils heute noch erhaltenen 4-6 m hohen Wälle, wie zum Beispiel auf dem Michelsberg bei Kipfenberg, dem Schwanberg, dem Galgenberg bei Cham oder dem Schlossberg bei Kallmünz. Die Gräben an diesen Wallanlagen haben eine durchschnittliche Breite von 10-12 m. Solche Wallanlagen hatten im Zusammenhang mit den Ungarneinfällen einige Vorteile. Sie konnten leicht, schnell und ohne besondere Kenntnisse errichtet werden und ihre Beschaffenheit war gut für die Verteidigung gegen Reitertruppen geeignet. Häufig entstanden die Erdwälle an bereits bestehenden Befestigungen, die oft über einen besseren Schutz verfügten.

- Kartierung der geschütteten Wälle nach P. Ettel: 1) geschütteter Wall, 2) vermutlich geschütteter Wall, 3) nach Schriftquellen, 4) historisch nachgewiesen, 5) Annäherungshindernisse (Ettel 2014, S. 163, Abb. 4)
Entwurf einer Kartierung archäologischer Spuren von Ungarneinfällen im Süd-, Mittel- und Westeuropa (Schulze-Dörrlamm 2002, S. 110, Abb. 1)

Archäologische Spuren
Die Ungarneinfälle sind in den Schriftquellen gut dokumentiert, doch welche archäologischen Überreste könnten auf die Feldzüge eines Reitervolkes durch das Land hinweisen? Krieger, Opfer oder Kampfspuren?
Bereits 1984 gab es Versuche, Kartierungen archäologischer Spuren der Ungarneinfälle zu erstellen, die jedoch wenig aussagekräftig waren. Seitdem hat sich die Lage jedoch deutlich verbessert. Es kamen einige Gräber ungarischer Krieger ans Tageslicht, wie zum Beispiel das eines jungen Mannes, der in einem Hochtal der Westalpen in der Nähe von Aspres-lès-Corps unter einem Steinhaufen mit Säbel und Pfeilköcher bestattet wurde. Aber auch die Opfer der Ungarneinfälle wurden gefunden. Ein Beispiel sind zwei Männer, die auf dem Kirchhof der großmährischen Herrschaftsfamilie in Břeclav-Pohansko beerdigt wurden. Beide wurden durch Pfeilschüsse getötet. Einige Frauengräber auf den slawischen Gräberfeldern der Südslowakei und Südmährens enthielten einzelne ungarische Schaftdornpfeilspitzen als Beigabe. Da solche Grabbeigaben für Frauenbestattungen ungewöhnlich sind, könnten sie die Todesursache andeuten.
Spuren des Pfeilbeschusses finden sich oft auch in den Befestigungen. So sind zum Beispiel Pfeilspitzen in der ganzen Anlage verteilt, was die ständigen Angriffe der Magyaren bestätigt.

Verschiedene ungarische Pfeilspitzen gefunden in Mittel- und Südeuropa (Schulze-Dörrlamm 2002, S. 113, Abb. 4)

Wallanlage Rauher Kulm, Oberpfalz
Ein Beleg für Angriffe ungarischer Reitertruppen auch in der Oberpfalz ist die Wallanlage Rauher Kulm. Der Rauhe Kulm ist ein 681 m hoher Berg, der bei Neustadt am Kulm in der Oberpfalz liegt.
Trotz der Störung des Walls durch spätere Eingriffe und den Abbau des Basalts in Steinbrüchen ist der Verlauf noch an den Basaltblöcken zu erkennen. Der untere Hauptwall verfügte über mindestens zwei Torbereiche und einen weiteren befestigten Bereich auf mittlerer Höhe. Die Höhenburg wird allerdings als überwiegend spätmittelalterlich klassifiziert. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden hier archäologische Forschungsarbeiten statt. Dabei stellte sich heraus, dass der Raue Kulm schon seit dem Neolithikum stets aufgesucht wurde. Seit etwa 20 Jahren werden systematisch archäologische Ausgrabungen durch Hans Losert durchgeführt. Neben anderen wichtigen archäologischen Spuren fand das Team von Losert während der Kampagne 2015 eine Pfeilspitze (siehe Berichterstattung O-Netz), die aufgrund ihrer Merkmale den Ungarn zugeordnet wird. Das Stück deutet zudem auf eine Kampfhandlung hin, die vermutlich bei einem Ungarneinfall im Nordosten Bayerns stattfand, wobei die Befestigungsanlage belagert wurde.

Torbereich, Wallanlage Rauher Kulm Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Ungarneinf%C3%A4lle#/media/Datei:Kalandozasok.jpg; PeterBraun74; https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en)
Topografischer Plan des Rauhen Kulm mit den Grabungsschnitten aus der Kampagne 2004/2005 (Losert 2007, S. 108 Abb. 1)

Ungarneinfälle nach dem 10. Jahrhundert
Spätere ungarische Angriffe wurden in einzelnen Überlieferungen noch gelegentlich als "Ungarneinfälle" bezeichnet. Beispielsweise die Angriffe auf die Steiermark (von Friedberg bis Radkersburg) im 13. Jahrhundert oder 1418 unter König Sigismund und im Zuge der Ungarnkriege (1446-1490).


Literatur
H. Losert, Neue Forschungen am Rauen Kulm, Teil 2: Archäologische Untersuchungen zur Kenntnis von Besiedlung und Befestigung im frühen Mittelalter, in: M. Chytracek/J. Michalek u.a. (Hrsg.), Archäologische Arbeitsgemeinschaft Ostbayern/West- und Südböhmen (Rahden/Westf. 2007)119-126.

M. Schulze-Dörrlamm, Die Ungarneinfälle des 10 Jahrhunderts im Spiegel archäologischer Funde, in: J. Henning (Hrsg.), Europa im 10 Jahrhundert. Archäologie einer Aufbruchszeit, Internationale Tagung in Vorbereitung der Ausstellung „Otto der Große, Magdeburg und Europa" (Mainz am Rhein2002) 109-122.

P. Ettel, Die Entwicklung des frühmittelalterlichen Burgenbaus in Süddeutschland bis zur Errichtung von Ungarnburgen und Herrschaftszentren im 10. Jahrhundert, in: L'origine du chateau médiéval. Actes (2012) 139-156.

P. Ettel, Karlburg-Rosstal-Oberammerthal. Studien zum frühmittelalterlichen Burgenbau in Nordbayern. Grabungen des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege K. Schwarz, R. Koch, L. Wamser, Frühgeschichtliche und Provinzialrömische Archäologie Materialien und Forschungen 3 (Rahden/Westf. 2001) 195-242.

P. Ettel, Ungarnburgen in Süddeutschland im 10. Jahrhundert, in: Château-Gaillard. Études de castellologie médiévale 26 (Caen 2014) 159-165.

Links
https://www.onetz.de/neustadt-am-kulm/lokales/wuehlen-in-der-vergangenheit-d78974.html