Kirchenmusik im Mittelalter – Die Geschichte der Orgel

Wer heute einen katholischen oder evangelischen Gottesdienst besucht, kennt den imposanten akustischen Eindruck der weit verbreiteten Kirchenorgeln und ihrer sakralen Bedeutung. Aus heutiger Sicht denkt man bei Orgelmusik wahrscheinlich zuerst an Johann Sebastian Bach (1685-1750), doch schon im frühen Mittelalter wurden Orgeln gebaut und nicht nur im kirchlichen Raum genutzt. Dabei reicht die Geschichte der Orgel, ein verhältnismäßig aufwändig konstruiertes und kompliziertes Musikinstrument noch weit tiefer in die Vergangenheit.  

Orgeln sind komplizierte Apparate, bei denen durch künstliche Luftzufuhr und unter Verwendung von durch Tasten gesteuerte Klappen der Luftstrom in unterschiedliche Holz- oder Metallröhren geleitet wird, die dann einen Ton erzeugen. Die ältesten Funde solcher Konstruktionen finden sich bereits im 3. Jahrhundert in den Villen hochrangiger Persönlichkeiten des Römischen Reichs. Nach dem Ende der Völkerwanderungszeit finden sich Orgeln nur noch auf Abbildungen. Der älteste archäologische Fund nördlich der Alpen, der sich sicher einer Orgel zuweisen lässt, stammt aus dem 14. Jahrhundert. Wie genau die Orgelbautradition die Wirren nach dem Ende des Römischen Reichs überdauert hat und wo sie hauptsächlich eingesetzt wurde, ist weiterhin relativ uneindeutig.
Rutland Psalter: König David spielt auf einer mit zwei Blasebälgen betriebenen Orgel, begleitet durch einen Drehleierspieler, England um 1260. (Quelle: British Library, www.bl.uk/manuscripts, f97v)
Stuttgarter Psalter: Orchester mit Vorsänger, Horn, kitharaähnliches Instrument, Stabzimbeln und durch drei Personen betriebene Blasebalgorgel aus dem Stuttgarter Psalter, 1. Hälfte 9. Jahrhundert (Quelle: Württembergische Landesbibliothek Stuttgart online, f163v)
Lutrell Psalter: kleine Orgel mit einem Blasebalg betrieben. England, 1325-1335. (Quelle: British Library, www.bl.uk/manuscripts, f55r)
In der frühmittelalterlichen Buchmalerei tauchen Orgeln nur in geringem Umfang auf. Dabei handelt es sich meist um große schrankartige Konstruktionen mit einer Vielzahl an Orgelpfeifen auf einem Gestell. In mehreren Fällen lässt sich auch erkennen, dass das Instrument mittels Blasebalgs betrieben wurde. Bildquellen verraten außerdem, dass sie wohl zur Untermalung von Gesang genutzt wurden und neben der Orgel auch andere Instrumente wie die Kithara (Vorgänger der Gitarre und Fidel) eingesetzt wurden. Welche musikalischen Stücke gespielt wurden kann für diese frühe Zeit nicht rekonstruiert werden, allerdings können die Instrumente, mit der sie gespielt wurde, erahnen lassen, welche Bandbreite den Menschen im Mittelalter zur Verfügung stand.

Musik war nicht nur in der Kirche wichtig
Neben solchen großen Orgeln finden sich auf jüngeren Abbildungen auch kleinere wohl transportable Instrumente mit weniger Pfeifen. Sie wurden vermutlich nicht ausschließlich im sakralen Kontext genutzt, sondern auch auf Feiern oder anderen Veranstaltungen mit musikalischem Rahmenprogram eingesetzt.
Aber auch außerhalb von solchen größeren Veranstaltungen gab es Bedarf für musikalische Untermalung. Für Anlässe, bei denen man nicht den logistischen Aufwand größerer Orgeln betreiben wollte oder auch für die Nutzung durch Hobbymusiker oder Leute die ihr Instrument – warum auch immer – schnell und einfach transportieren wollten, gab es eine noch kleinere Variante. Im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit finden sich Orgeln mit wenigen Pfeifen und reduzierter Technik, die durch eine Person tragbar und mit einer Hand betrieben werden konnten.
Zeitgenössische Abbildungen zeigen oft Musikanten auf Dorffesten oder in Wirtshäusern. Ob es sich bei diesen um hauptberufliche Wandermusikanten handelte, oder einfach nur um Gäste des Festes, die ihre private Orgel mitgenommen hatten, kann nicht erschlossen werden.
Solche Orgeln wurden mit einem Gurt um den Körper gehalten. Auf der Rückseite fand sich ein kleiner Blasebalg mit einer Schlaufe für die Hand, mit der anderen Hand konnten die Tasten auf der Vorderseite betätigt werden. Die heute weithin bekannte Ziehharmonika funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip, jedoch mit einem mittig gelegenen und ausziehbaren Blasebalg, einer deutlich größeren Klaviatur und damit größerem Spielraum in der Ausgestaltung der Musik.

Sakral- und Unterhaltungsmusik muss für die Menschen des Mittelalters eine zentrale Bedeutung gehabt haben, bedenkt man allein den Aufwand der betrieben wurde, um Musik in das Leben einzubinden.

Lutrell Psalter: Handbetriebene Ein-Mann-Orgel, England 1325-1335. (Quelle: British Library, www.bl.uk/manuscripts, 176r)

Abbildungen:
Rutland Psalter, British Library, www.bl.uk/manuscripts
Stuttgarter Psalter, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart online, https://wlb.ibs-bw.de
Lutrell Psalter, British Library,
http://www.bl.uk/manuscripts

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