Die Entwicklung des Glasspiegels seit dem Mittelalter

Bis ins späte Mittelalter wurden als Spiegel nur polierte Metallplatten oder -bleche verwendet. Die Glasspiegel, die im 14. Jahrhundert von den Venezianern auf der Insel Murano hergestellt wurden, verfügten über eine bis dahin unübertroffene Brillanz und ermöglichten eine Farbechtheit des Spiegelbildes, die man sich bis dahin kaum vorstellen konnte.
Glasspiegel waren zunächst ein kostbares Luxusgut, das sich nur wohlhabende Fürsten und Könige leisten konnten. Grund dafür war beispielsweise der hohe Zeitaufwand, den das Schleifen erforderte. Für eine zwei Quadratmeter große Spiegelglasscheibe waren etwa zwei Monate Schleifzeit erforderlich. Außerdem dauerte das Polieren weitere zwei Wochen.

König Ludwig XIV. und der Spiegelsaal von Versailles
Durch strikte Geheimhaltung konnten die Venezianer den Markt rund 300 Jahre lang monopolartig kontrollieren. Im 17. und 18. Jahrhundert sorgte die Pracht des Barocks für eine steigende Nachfrage nach Muranoglas und vor allem nach Glasspiegeln. Die großformatigen Spiegel waren aber so teuer, dass offenbar auch dem französischen König Ludwig XIV. die Kosten für den Spiegelsaal in seinem neuen Schloss in Versailles zu hoch erschienen. So gelang es seinem Minister Jean-Baptiste Colbert, unter recht abenteuerlichen Umständen, 1.655 venezianische Glasmacher aus Murano nach Paris zu holen. Im selben Jahr wurde die Manufacture Royale des Glaces de Miroirs (Königliche Spiegelmanufaktur) gegründet. So konnten nun die Spiegel, die zur Ausstattung des Schlosses benötigt wurden, selbst produziert werden.

Der Spiegelsaal von Versailles (The Signing of Peace in the Hall of Mirrors, Versailles, 28th June 1919, William Orpen; gemeinfrei)

Die Entwicklung in Deutschland am Beispiel Oberpfalz
In Augsburg und Nürnberg gab es bereits im 14. Jahrhundert Glasmacher und Spiegler. Kaufleute handelten gleichzeitig mit deutschen Spiegelkugeln sowie importierten Flachspiegeln. Erst im 16. Jahrhundert gelang es die Veredelung von Spiegelglas zu erlernen – eine Technik, die bis dahin auf der Glasmacherinsel Murano geheim gehalten wurde. Nachdem die französischen Glasmacher die venezianische Technik erworben und in Frankreich verbreitet hatten, brachten sie ihr Fachwissen Ende des 17. Jahrhunderts in das Heilige Römische Reich. Nürnberg entwickelte sich im Zuge der bestehenden Geschäftsverbindungen zunächst zum Veredelungszentrum Bayerns. Danach traten die Franzosen den Eroberungsfeldzug der oberpfälzischen vorindustriellen Flachglasveredelung an. St. Marie d'Eglise, ein französischer Einwanderer hatte 1716 eine Glashütte bei Wildenreuth gegründet. Gleichzeitig finanzierte er im benachbarten Krummennaab den Umbau einer Mahlmühle in das erste Schleif- und Polierwerk in der Oberpfalz. Damit verdiente er so viel Geld, dass er dem Freiherrn von Lindenfels schon nach sieben Jahren die Hofmark Krummennaab kaufen konnte. Sein Mitarbeiter Pierre Perge eröffnete 1722 ebenfalls ein Werk in Erbendorf. Bis 1870 stieg die Zahl der Schleif- und Polierwerke auf 137.

Die Herstellungstechnik
Das Herstellungsverfahren der Spiegel bestand aus drei wesentlichen Produktionsschritten. Die Herstellung von Rohglastafeln mit vielen Unreinheiten, gefolgt von der Veredelung zu Spiegelglas und das Belegen. Zusätzlich wurden die Kanten abgeschliffen und gerahmt. In den Schleif- und Polierwerken der Oberpfalz wurde der vorherrschende Teil des Veredelungsprozesses in Schleifen, Nachschleifen und Polieren unterteilt.
Das anfangs trocken ausgeführte Schleifverfahren wurde erst um 1800 auf das nasse Handschleifen umgestellt. Im 20. Jahrhundert entwickelte man verschiedene Schleifapparate, wie z. B. Rundschleif- oder Schifauerapparate (Eisen auf Glas).
Danach mussten die fertig geschliffenen Gläser begutachtet sowie die Fehler markiert werden, die dann durch manuelles Nachschleifen mit Schmiergel (Glas auf Glas) behoben wurden. Dieses Verfahren wurde hauptsächlich von den Ehefrauen der Arbeiter zuhause durchgeführt.
Das Polieren, bzw. „Durchsichtigmachen" des Glases erfolgte nach dem Nachschleifen. Während anfänglich runde oder polygonale Tische Verwendung fanden, verbreiteten sich mit der Zeit die effektiveren länglichen Polierbänke. Die Polierer mussten regelmäßig das Poliermittel in immer feinere Schichten aufsprühen und den Filz alle paar Stunden abbürsten. Nachdem eine Seite poliert war, wurde die Glasscheibe vorsichtig umgedreht und im gleichen Gipsbett poliert. Als Poliermittel diente das sogennante Potée, ein Gemisch aus Eisenoxid und Wasser. Für das Polieren wurde in der Oberpfalz offenbar stets die Wasserkraft genutzt, denn die Spiegelmeister wählten Flussläufe als Standorte für ihre Werke.

Sozialleben der Schleifer- und Poliererfamilien
Die Arbeiter wohnten direkt in den Werken und verließen diese auch über längere Zeit nicht. Zudem wechselten sie häufig ihren Arbeitsplatz und damit auch Wohnort. Das lag nicht nur am ständigen Streben nach besserem Einkommen, sondern auch an den Arbeits- und Lebensbedingungen, insbesondere an der Beziehung zum jeweiligen Meister. Die Lebensqualität der Angestellten war direkt vom Meister abhängig, denn er gab ihnen Arbeit, Unterkunft, Lohn und sogar Brot. Auch damals waren viele Werke auf Profitsteigerung aus, was zum Nachteil der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter sein konnte. Unter der Bevölkerung verbreiteten sich oft unangenehme Vorwürfe gegen die Schleifer- und Poliererfamilien, wie etwa Ungläubigkeit, uneheliche Kinder, Alkoholabhängigkeit und Diebstahl. Anders als in bäuerlichen Hausgemeinschaften, die durch patriarchale Arbeitsverhältnisse moralisch und sozial kontrolliert wurden, verfügte das Personal in der Glasindustrie über eine persönliche Freiheit.

Niedergang der Schleif- und Polierwerke
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten sich technische Neuerungen in der Glasherstellung, die dazu führten, dass der Arbeitsschritt der Veredelung entfiel. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeiteten nur noch sehr wenige Betriebe. Zudem wechselten auch die Standorte aufgrund neuer Transportmöglichkeiten durch die Eisenbahn und Braunkohle als Brennstoff. Weitere Entwicklungen, wie zum Beispiel das Floatglas-Verfahren, machten Schleif- und Polierwerke nahezu völlig überflüssig.


Literaturverzeichnis
A. Busl, Waldglashütten in der Oberpfalz, in: Heimatkundlicher Arbeitskreis im Oberpfälzer Waldverein (Hrsg.), Oberpfälzer Heimat. Beiträge zu Heimatkunde der Oberpfalz. Band 43(Weiden 1998)143-155.
G. Richter, Spiegelglas - Schleifen und Polieren in der Oberpfalz, Oberpfälzer Freilandmuseum Neusath – Perschen, Begleithefte zu Ausstellungen 4, 1998.
J. Ibel, Die Spiegelglasschleifen- und polieren im Landkreis Neustadt an der Waldnaab einschließlich der Stadt Weiden: ein Beitrag zur Industrie- und Wirtschaftsgeschichte der nördlichen Oberpfalz, Beiträge zu Wirtschafts- und Sozialgeschichte 8 (Weiden-Regensburg 1999)
J. Ibel, Spiegelglas in der Oberpfalz, in: Oberpfälzer Kulturbund (Hrsg.), Die Oberpfalz - Land der Pfalzgrafen in der Mitte Europas, Festschrift zum 35. Bayerischen Nordgautag in Vohenstrauß, 2004, S. 185-194.

Weiterführende Links
http://www.stolberg-abc.de/glas/glastxt.htm#Spiegelglas
https://schaufelberger.wordpress.com/2020/01/10/versailles-vom-jagdschloss-zum-groessten-palast-europas-alice-4b/

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