Die Rolle der Frau in der Steinzeit … ganz anders als bisher gedacht. (Teil 2/2: Die Sicht der Anthropologie)

Die Annahme, dass Männer in den Wäldern jagten, während Frauen Nahrung sammelten und sich um die Kinder kümmerten, ist tief in unserer Vorstellung von den prähistorischen Jäger- und Sammlergesellschaften verwurzelt. Aber sprechen die empirischen Belege wirklich für diese Version der geschlechtsdifferenzierten Arbeit, oder ist sie eine Fiktion unserer modernen Gesellschaft?

Neben archäologischen Erkenntnissen bietet auch die Anthropologie eine Möglichkeit diese Frage zu beantworten. Und zwar durch die Untersuchung prähistorischer Knochenfunde und Skelettreste, die sich über Tausende und Zehntausende Jahre erhalten haben. Das menschliche Skelett ist wie ein lebender Organismus, der sich im Laufe des Lebens entwickelt, verändert und anpasst. Ein Forschungszweig der Anthropologie untersucht diverse Veränderungen und Merkmale und versucht daraus die verschiedenen Aktivitäten zu Lebzeiten herauszulesen. Zwei dieser Merkmale sind Arthrose und Veränderungen der Knochenhaut, die auch als Enthesopathien bezeichnet werden.

Arthrose
Die ständige Beanspruchung bestimmter Muskeln und Gelenke hinterlässt Spuren im Skelett. Je nachdem, wie stark ein bestimmter Knochen belastet wird und wo er sich befindet, kann Arthrose auf eine bestimmte Tätigkeit zurückgeführt werden. Geht man nun von sammelnden Frauen und jagenden Männern aus, sollten auch unterschiedliche Spuren der Aktivität in ihren Skeletten zu finden sein.
Forscher fanden heraus, dass Menschen der Jäger- und Sammlergesellschaften eine hohe Tendenz zu Osteoarthritis und Gelenkverschleiß am rechten Oberarm aufweisen, was ein Indiz für die Verwendung von Pfeil und Bogen darstellt. Dies wurde sowohl bei Männern als auch bei Frauen festgestellt, ein Unterschied zwischen den Geschlechtern konnte dabei nicht erkannt werden.

Enthesopathien

Enthesische Veränderungen können in Bereichen beobachtet werden, in denen Muskeln am Skelett ansetzen. Je größer die Muskeln sind und je häufiger bestimmte Muskeln benutzt oder überbeansprucht werden, desto ausgeprägter sind die Veränderungen an der Knochenhaut.
Bei prähistorischen Populationen wurden Veränderungen der Knochenhaut am rechten Oberarmknochen festgestellt, die möglicherweise mit dem Speerwerfen zusammenhängen, das einen hohen Kraftaufwand erfordert. Dabei wurden einige relevante Unterschiede zwischen den Geschlechtern festgestellt. So wiesen Männer größere Veränderungen als Frauen auf. Dieses Ergebnis könnte die Annahme stützen, dass das Speerwerfen hauptsächlich eine männliche Tätigkeit war. Da die Knochenhautveränderungen jedoch relativ zur Körper- und Muskelgröße sind und die Erforschung der Enthesopathien nicht abgeschlossen ist, ist dieses Ergebnis nicht eindeutig. Und selbst wenn bewiesen wäre, dass Männer im Allgemeinen eher dazu neigten, mit Speeren zu jagen, schließt das nicht die Möglichkeit aus, dass Frauen dennoch Jägerinnen waren, wenn auch vielleicht nicht unbedingt mit Speeren.

Gewalteinwirkungen
Wenn Frauen in der frühen Vorgeschichte ihr Leben eher bei den Kindern und in der Nähe des Lagers verbrachten, könnte man davon ausgehen, dass sie auch weniger Gewalteinwirkung ausgesetzt waren wie Männer. Zwar hinterlassen nicht alle Wunden Spuren am Skelett, aber nach anthropologischen Erkenntnissen gibt es keinen signifikanten Unterschied zwischen Gewalteinwirkungen bei frühgeschichtlichen Frauen und Männern. Es wurden zwar Unterschiede zwischen den Gruppen nachgewiesen, aber eben kein allgemeiner Trend für alle Populationen.

Nach anthropologischen Erkenntnissen gibt es nicht viele Hinweise auf eine geschlechtsdifferenzierte Rollenverteilung bei den steinzeitlichen Jägern und Sammlern. Sowohl in der Archäologie als auch in der Anthropologie wird nach weiteren Antworten gesucht, und jeden Tag kommen neue Entdeckungen über unsere prähistorischen Vorfahren ans Licht. Die Rolle der Frau muss weiter erforscht und gängige Theorien müssen in Frage gestellt werden. Doch schon jetzt ist klar, dass veraltete Bilder und Vorstellungen nicht mehr haltbar sind und die Rolle der Frau in der Steinzeit wohl doch ganz anders als bisher gedacht war.

Grab einer älteren Frau aus Ajvide, Gotland, mit Beigaben wie Äxten, Tierzähnen, Pfeilspitzen, Angelhaken (Quelle: Molnar, P., 2010)

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