Erdställe – ein ungelöstes Rätsel der Archäologie

In weiten Teilen Europas finden sich künstlich angelegte unterirdische Anlagen, sogenannte Erdställe. Auch wenn die Erforschung in den letzten Jahrzehnten immer besser wurde, bleibt deren ursprüngliche Funktion weiterhin im Dunkel der Geschichte verborgen. Doch was weiß man über diese Phänomene bisher?
Der Begriff Erdstall hat nichts mit einem Viehstall zu tun. Erdställe sind unterirdische, künstlich geschaffene, mittelalterliche Gänge. Sie kommen vor allem in Bayern (bisher über 700 entdeckt) und Österreich vor. Ähnliche Anlagen finden sich auch in Baden-Württemberg, Sachsen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Polen. Vergleichbare unterirdische Anlagen sind ebenfalls aus Irland, Großbritannien, Frankreich und Spanien bekannt. Allerdings wird diesen teilweise eine andere Zeitstellung und Funktion zugesprochen. Regional werden die Erdställe außerdem als "Schratzloch" (Bayern), "Zwergloch" sowie "Grufen" (Österreich) bezeichnet. Die Forschungsgeschichte der Erdställe geht auf das 19. Jahrhundert zurück. Doch erst in den letzten Jahrzehnten sind diese zunehmend im Fokus der zuständigen Denkmalbehörden gelangt.
Grundriss eines Erdstalls in Bad Zell / Oberösterreich (E. Fritsch/J. Weichenberger, https://dewiki.de/b/1b4964)

Das weiß die Archäologie
Die Forschung hat die Erdställe gemäß ihrer Bauform grob in vier Typen (A-D) kategorisiert, die regional unterschiedlich verbreitet sind. Dennoch gibt es Einzelelemente, die die meisten Erdställe gemeinsam haben. Der Eingang erfolgt in der Regel über waagerechte oder leicht geneigte Schlupfgänge sowie senkrechte Schächte. Die meist winklig angeordneten Gänge sind bis zu 60 cm breit und kaum 1,0 bis 1,4 m hoch. Als besonders sorgfältig ausgearbeitet gelten die sogenannten Schlusskammern. Diese sind etwas höher und sind mit Sitznischen ausgestattet. Erdställe finden sich häufig im Kontext ländlicher Siedlungen, z. B. unter alten Bauernhöfen, in Wüstungen, seltener auch unter Kirchen, Friedhöfen oder Burganlagen. Eine Datierung der Erdställe ist recht problematisch. Zum einen sind sie archäologisch wenig untersucht und zum anderen ziemlich leer an Funden. Gelegentlich finden sich zwar Keramikscherben, doch Holz- oder Holzkohlenreste sind in diesem Fall weitaus aussagekräftiger. Auf Grundlage der am häufigsten verwendeten Datierungsmethode – der C14-Datierung mittels Holzkohleproben – werden die Erdställe zwischen das 10. und 14. Jahrhundert datiert.

Dürftige Quellenlage
Die erste schriftliche Erwähnung eines Erdstalls stammt aus einem Grundbesitzverzeichnis von 1449. Dort wird erwähnt, dass ein gewisser Methl Huendl im österreichischen Asparn an der Zaya seinem Herrn sechs Pfennig für das 3 1⁄2 Joch große Feld "auf den erdstelln" zu zahlen hat. Eine weitere Erwähnung findet sich in einem Totenbucheintrag vom 6. August 1683, also während der zweiten Türkenbelagerung, in der Gemeinde Zistersdorf in Niederösterreich (Abb. 2). Hier sind Personen aufgelistet, die in ihren Erdställen durch kriegsbedingte Brände erstickt waren.

Aus dem Totenbucheintrag der Pfarrei Zistersdorf von 1683 (https://data.matricula-online.eu/de/oesterreich/wien/zistersdorf/)

Vermutete Funktionen
Trotz aller Daten, die bereits gesammelt werden konnten und was man über die Erdställe weiß, bleiben ihre ursprüngliche Funktion und der Grund, warum sie gebaut wurden, weiterhin ein Rätsel und Mysterium. Es existiert keine einzige schriftliche Quelle über den Bau der Erdställe und wie sie zustande gekommen sind. Selbst vor hunderten von Jahren hatten die Menschen keine Ahnung mehr, welchen Zweck diese Anlagen hatten und bezeichneten sie häufig als Wohnhöhlen von Zwergen.
Es gibt aber auch wesentlich rationalere Überlegungen. Einige WissenschaftlerInnen nehmen an, dass es sich um Gräber, oder vielmehr Leergräber handelt, da menschliche Überreste oder Grabbeigaben völlig fehlen. Die mögliche Nutzung für den Totenkult wird auch immer wieder im Vergleich mit ähnlichen Anlagen, wie den Souterrains in Frankreich diskutiert.
Eine weitere Überlegung ist ihre Nutzung als Zufluchtsstätte. Allerdings wären sie für diesen Zweck sehr unpraktisch gewesen, da sie durch ihre engen Gänge beispielsweise für schwangere Frauen nur sehr schwer zugänglich waren.
Es bleibt ebenso offen, ob die Erdställe für eine private Nutzung gebaut wurden. Allerdings ist das unwahrscheinlich, da die einfache Bevölkerung im Mittelalter nicht über genügend Sachmittel für derartige Bauten verfügte. Daher ist es möglich, dass die Anlagen ursprünglich eher für den sakralen und weniger für den profanen Gebrauch gebaut wurden.

Bestes Beispiel liegt in der Oberpfalz
Der Erdstall Höcherlmühle in Kühried (Gemeinde Teunz, Landkreis Schwandorf) gilt als das am besten erforschte Beispiel. Er wurde 2002 bei landwirtschaftlichen Arbeiten entdeckt. Sorgfältige Ausgrabungen brachten spannende Funde und Befunde ans Tageslicht. Zunächst wurde erstmals der Bauhilfsschacht des Erdstalls vollständig ausgegraben. Dieser ist von besonderer Bedeutung, da er die Datierung der ersten Bauphase ermöglicht. Hier konnte das Archäologenteam Holzkohleproben bergen, um eine C14-Datierung durchzuführen. Mit dem Ergebnis lässt sich die Anlage in die Zeit zwischen 954 und 1163 datieren. Weitere wichtige Funde waren Hufeisen, ein mittelalterliches Messer, ein Schlüssel und zahlreiche Keramikscherben. Es bleibt jedoch offen, ob der Erdstall bewohnt war.

Keramik aus dem Erdstall in Kühried (Bildquelle: https://www.lochstein.de/hrp/erdstall/D/kuehried/kuehried.htm)
Eingang zum Erdstall in Kühried, Landkreis Schwandorf, Oberpfalz, Bayern (Bildquelle: https://www.lochstein.de/hrp/erdstall/D/kuehried/kuehried.htm)
Erdstall in Kühried Innenansicht (Bildquelle: https://www.lochstein.de/hrp/erdstall/D/kuehried/kuehried.htm)

Das Ende der Erdställe
Im 15. und 16. Jahrhundert kam es vermehrt zu Verfüllungen von Erdställen. Auch bei der Höcherlmühle wird davon ausgegangen, dass er bereits im Hochmittelalter bewusst verfüllt wurde. Allerdings unterscheiden sich hier die Ansichten. Bei ähnlichen Beispielen, wie im oberösterreichischen Schardenberg, waren die über den Erdställen befindlichen Holzhäuser höchstwahrscheinlich abgebrannt. Es ist nicht auszuschließen, dass die Unruhen in dieser Zeit die Ursache dafür waren. Wahrscheinlich hatten die Erdställe zu diesem Zeitpunkt einfach nur ihre ursprüngliche Funktion bereits verloren, die Besitzer hatten keinen Gebrauch mehr und verfüllten den Eingangsschacht. Das ist jedoch eine Vermutung und keine endgültige Interpretation.


Literaturverzeichnis
J. Weichenberger, Das Alter der Erdställe. In: Der Erdstall 39, 2013, 56–58.
M. Löffelmann
, Erdställe und ihre Bedeutung in Kult, Religionsgeschichte, Überlieferung (Der Erdstall 23), Roding 1997.
M. Straßburger
, Erdställe und Bergwerke im montanarchäologischen Vergleich, (Der Erdstall 42), 2016, 36-63.
M. Straßburger/R. Kaiser u. a.
, Archaeological recording and technical securing of an erdstall according to specifications of the Bavarian State Office for Monument Conservation, in: 12th Yearbook of the Institute Europa Subterranea (Freiberg/Gulpen 2017) 78-99.
Link
: https://www.lochstein.de/hrp/erdstall/D/kuehried/kuehried.htm (Stand: 12.12.2022).

Abbildungsverzeichnis
https://dewiki.de/Lexikon/Erdstall
https://data.matricula-online.eu/de/oesterreich/wien/zistersdorf/
https://www.lochstein.de/hrp/erdstall/D/kuehried/kuehried.htm

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