Zauberei oder Medizin? – Wie ein Fund aus der Keltenzeit endgültig ein Rätsel der Archäologie gelöst hat
Lange glaubte man an ein magisches Ritual
Bereits 1926 erschien ein Fachartikel, der sich mit einem vergleichbaren Tonring aus einer frühlatènezeitlichen Bestattung in La Veuve (Marne, Frankreich) befasste und dort als Pessar angesprochen wurde, also eine medizinische Vorrichtung zur Stützung der Gebärmutter. Weitere ähnliche Ringe fanden sich in Südwestdeutschland und Ostfrankreich, allerdings sehr selten. Diese datieren ebenfalls in die Hallstatt- und Latènezeit. In einer Auswertung der späthallstattzeitlichen Kultur in Nordwürttemberg behandelte auch Ludwig Pauli 1972 diese Ringe und kam zum Schluss, dass es sich um Amulette – also Objekte mit magischer oder ritueller Bedeutung – handelte. Die Ringe wurden immer im Bereich des Beckens gefunden und zeigten keinerlei Spuren einer Aufhängung. Daher ging Pauli davon aus, dass sie im Rahmen der Bestattung einer im Kindbett oder bei der Geburt Verstorbenen ins Grab gelegt wurden. Der Tonring sollte seiner Interpretation zur Folge das Wiedergängertum der verstorbenen Mutter unterbinden – sie also im Grab bannen. Der Glaube an Wiedergänger – also Tote die aus dem Grab auferstehen und den Hinterbliebenen schaden – findet sich auch noch im Mittelalter (Artikel: Walking dead" – Der Glaube an wandelnde Leichen im Mittelalter). Die Schlussfolgerung lag also nahe, dass es sich um einen "keltischen Bannzauber" handeln würde.
Nachweis der medizinischen Therapie
Die Bannzaubertheorie wurde über Jahrzehnte gelehrt und oftmals zitiert, aber auch immer wieder kritisiert, ohne auf einen Konsens zu kommen. Schließlich untersuchte die Prähistorikerin Diane Scherzler in ihrer Magisterarbeit das genannte Grab in Stuttgart-Mühlhausen. Sie kam sehr überzeugend und mit einer ausgefeilten Beweisführung zu dem Schluss, dass die erste Interpretation der Tonringe als Pessare richtig sein musste. Eine kurze Zusammenfassung der lesenswerten Arbeit findet sich hier.
Die Funktion von Pessaren
Nach mehreren schnell aufeinander folgenden Geburten oder bei einer Erschlaffung der Ligamente (Bindegewebe) – wie es offenbar auch bei der Bestatteten aus Stuttgart-Mühlhausen vorlag – kann sich der weibliche Genitalapparat absenken. Um dies zu verhindern, wird ein ringförmiges oder zylindrisches Objekt so eingeführt, dass es fast horizontal auf einem Muskel des Beckenbodens (Musculus levator ani) aufliegt und sich in dem Winkel der Schambeinäste abstützt (Arcus pubis). Die Gebärmutter liegt so auf dem Ring auf und wird mechanisch am Absinken gehindert. In der heutigen Zeit wird zwar meistens operiert, die Pessartherapie findet jedoch weiterhin Anwendung. Der Pessarring muss so groß sein, dass er bei Druck nicht aus dem Bauchraum rutschen kann, gleichzeitig aber klein genug, um keine Druckgeschwüre hervorzurufen. Heutige Pessare bestehen meist aus Kunststoff, bis in die 1990er Jahre wurden sie jedoch auch noch aus Porzellan oder Glas hergestellt. Die archäologischen Funde bestätigen, dass sie in ihrer Form seit mindestens 2500 Jahren unverändert sind.
Quelle:
D. Scherzler, Der tönerne Ring vom Viesenhäuser Hof - Ein Hinweis auf medizinische Versorgung in der Vorrömischen Eisenzeit?