Das „letzte Hemd“ ging mit der Mode? – Totenkleidung in der Neuzeit

Zu den frühesten Errungenschaften der Menschheit gehört die Fähigkeit, sich durch Bekleidung vor Wind und Wetter zu schützen. Stoffe, Trachtbestandteile und Schmuck gehörten zur Alltagskultur und spielen in der archäologischen Forschung eine große Rolle. Anhand der Form und Gestaltung lassen sich viele Rückschlüsse ziehen, wie zum Beispiel auf den sozialen Status der Trägerin oder des Trägers. Auch in ihrer letzten Ruhestätte.

Im archäologischen Befund sind Stoffe und Gewebe nur sehr selten erhalten, da sie sich im Erdreich schnell zersetzen und somit spurlos verschwinden. Dafür verraten Trachtbestandteile wie Schmuck, Gewandspangen, Schnallen oder auch Gürtelbeschläge in Gräbern vieles über die Gewandung der Toten. Besonders im Frühmittelalter sind solche Funde nicht ungewöhnlich und sprechen für eine bewusste Einkleidung und Ausstattung der Verstorbenen. Das änderte sich grundlegend mit der Verbreitung des Christentums, denn in der christlichen Vorstellung benötigte man keine besondere Ausstattung für das Jenseits. Hier reichte ein einfaches Stück Stoff als Leichentuch, in das der Leichnam eingewickelt oder eingenäht wurde. Deshalb sind in den Gräbern des Hoch- und Spätmittelalters kaum Kleidungsreste oder Grabbeigaben zu finden. Die große Ausnahme bilden die Gräber von Königen, Fürsten, Bischöfen oder hohen Klerikern: sie wurden in der Regel im Ornat und mitsamt ihren amtlichen Insignien beigesetzt. In erster Linie sollte damit der gesellschaftliche Status des Toten auf Erden zur Schau gestellt werden.

Entwicklung ab der Frühen Neuzeit
Etwas anders entwickelte es sich nach dem Ende des Mittelalters. Im archäologischen Befund gibt es ab dem 16. Jahrhundert, vor allem aber im 17. und 18. Jahrhundert immer mehr Gräber mit erhaltenen Bekleidungsresten. Auch wenn bei der Ausgrabung meist nur noch Spuren der Textilien zu finden sind, haben sich oft noch die Kleidungsverschlüsse aus Metall oder Tierknochen erhalten. Dabei handelt es sich überwiegend um Gewandhaken, Ösen aus gebogenem Draht, Knöpfe oder manchmal auch Schuhschnallen. Obwohl auch hier die christliche Jenseitsvorstellung für alle Menschen gleichermaßen galt, gab es große Unterschiede bei der textilen Ausstattung der Toten. Ob und in welchem Umfang ein Leichnam eingekleidet wurde, hing vor allem davon ab, zu welcher gesellschaftlichen Schicht der oder die Verstorbene gehörte. Nach wie vor bildete die mittelalterliche Ständegesellschaft die Grundlage der sozialen Ordnung und wirkte sich auf sämtliche Lebensbereiche aus. Sobald sich in der Oberschicht ein neuer Modetrend durchsetzte, wurde er in der Mittelschicht, dem Bürgertum, aufgegriffen und kam dann mit etwas zeitlichem Verzug auch bei den einfachen Leuten an. Dieser Effekt zeigt sich auch in der Totenkleidung. Gemäß den damals geltenden Kleiderordnungen durften die unteren Stände aber weder Gold- oder Silberknöpfen noch echten Schmuck tragen und mussten so auf günstige Materialien wie Buntmetall und Zinn zurückgreifen.

Gewandhaken und Ösen mit Textilresten (IN TERRA VERITAS)
Verschiedene Knöpfe aus Buntmetall aus einem neuzeitlichen Grab (IN TERRA VERITAS)
Je nach Fundlage und Typ geben diese Überreste wertvolle Hinweise darauf, um welche Art von Kleidung es sich handelte. Haken und Ösen vom Kragen- bzw. Ärmelverschluss liegen meist im Halsbereich oder bei den Handgelenken, während Knöpfe hingegen häufig eine Knopfreihe in der Körpermitte bilden. In der Regel stammten die Kleidungsstücke aus dem persönlichen Besitz der Verstorbenen, denn speziell angefertigte Totenhemden oder Gewänder gab es erst ab dem 18. Jahrhundert. Davor entschieden auch finanzielle Gründe, ob ein Leichnam im Leichentuch oder in vollständiger Bekleidung beigesetzt werden konnte. Im Gegensatz zum heutigen Überangebot von billiger Massenware war Kleidung bis in das 20. Jahrhundert ein wertvolles Gut und wurde so oft wie möglich geflickt, ausgebessert und umgearbeitet. Die Wiederverwertung und Weiternutzung von Kleidungsstücken war selbstverständlich und nicht jede Familie konnte es sich leisten, noch tragbare Kleidung oder gar Schuhe mitsamt dem Verstorbenen zu beerdigen.
Deshalb kamen als Totenkleidung oft ältere, abgetragene Stücke zum Einsatz, was natürlich die Datierung solcher Gräber beeinflusst. Außerdem ist davon auszugehen, dass man vorher noch brauchbare Teile wie Gewandhaken, Ösen und Knöpfe abtrennte. Das macht es umso schwieriger, Totenkleidung überhaupt nachzuweisen. Das „letzte Hemd" der einfachen Leute hat nicht nur keine sprichwörtliche Tasche – es wird für das archäologische Auge oft unsichtbar.
Knopfreihe in Fundlage (IN TERRA VERITAS)

Literatur:
V. Baur, Kleiderordnungen in Bayern vom 14. bis zum 19. Jahrhundert, 1975.
K. Ellwanger, Das "letzte Hemd". Zur Konstruktion von Tod und Geschlecht in der materiellen und visuellen Kultur, 2010.
G. Mentges, Auf und zu. Vom Verschließen des Körpers durch Kleidung, 1994.
M. Singer, Neuzeitliche Trachtbestandteile und Grabbeigaben des Friedhofes von St. Sigismund in Seußling, Oberfranken. Unpubl. Magisterarbeit Universität Bamberg, 2002.

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